Die Kids im „Bim“ sahen rot

Haben Sie, liebe Leser, die Welt schon einmal durch eine rote Plastikschachtel betrachtet?
Die Kinder der Kinderkrippe Bimsalasim in Niederhadamar erlebten ihren Gruppenraum einmal ganz anders, nämlich in verschiedenen Rottönen. Die Jungen und Mädchen veränderten ihre Positionen, schauten sich gegenseitig an, näherten sich den altbekannten Gegenständen und entfernten sich wieder. Die interessante Wahrnehmung übte eine ganz besondere Faszination aus. Vielleicht lag es auch am Spielmaterial, mit dem sich die Kinder drei Wochen lang beschäftigten.
Dazu muss man wissen, dass die Erzieherinnen mit tatkräftiger Unterstützung der Eltern einige Zeit vorher kostenloses Material sammelten wie Dosen, Plastikflaschen, Schachteln, Küchen – und Toilettenpapierrollen, Zeitungen, Eierkartons, Milchtüten und Pappkartons in unterschiedlichen Größen. Das traditionelle Spielzeug wurde aus den Gruppenräumen verbannt. Decken und Kissen, sowie Malpapier und Buntstifte standen den Kindern weiterhin zur Verfügung.
Das Spiel mit den Alltagsgegenständen regte Fantasie und Kreativität an. Mit Blechdosen konnte man Türme bauen und sie mit viel Getöse wieder umwerfen. Ein anderes Kind füllte kleine Deckel hinein, verschloss die Dose mit dem Deckel – gar nicht so einfach den passenden zu finden – und nutzte sie als Instrument. Wo ein Musiker ist, gesellt sich gern ein weiterer dazu. Pappröhren leerer Küchenrollen wurden zu Trompeten und ein paar Sänger unterstützten lautstark mit selbsterfundenen Texten das Orchester. Im gemeinsamen Tun nahmen die Kinder einander bewusster wahr und entwickelten in der Gruppe ein Wir-Gefühl.
Die Kinder werden im Alltag von Reizen überflutet, die sie gar nicht alle verarbeiten können. Im reizarmen Umfeld schauten sie sich an, erkannten und benannten Unterschiede in ihrem Aussehen, sahen Details, registrierten die Farbe der Kleidung und lernten einfache Gefühlsregungen zu deuten. Ohne den Überfluss an Eindrücken waren sie aufmerksamer und achtsamer im Umgang miteinander. Die Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen, aber auch mit den begleitenden Erzieherinnen intensivierten Beziehungen, festigte das Vertrauen und schuf eine solide Basis für Freundschaften.
Die Kleinen ahmten gern die Tätigkeiten der Großen nach. Anstatt bunter Töpfe, Teller und Besteck, kochten sie das Essen in Margarinebechern, bewegten sie sich auf den Spuren unserer Vorfahren und aßen mit den Fingern. Not macht bekanntlich erfinderisch. Unverkennbar imitierten sie das Geräusch fließenden Wassers beim anschließenden Abwasch: „sss!“
Sehr beliebt waren auch die Kartons, besonders die ganz großen. Die Kinder nutzten sie als Autos und schoben sich gegenseitig durch den Raum. Wieder andere versteckten sich darin. Mit Unterstützung eines Erziehers, malten sie Fenster und Tür auf einen riesigen Karton und schnitten sie so aus, dass die Fenster geöffnet werden konnten und man durch die Tür hineingehen und herauskommen konnte. Ein kreatives Rollenspiel mit verbaler oder dem Entwicklungstand entsprechend nonverbaler Verständigung begann. Wir wissen: Kinder verstehen sich auch ohne Worte.
Nach der spielzeugfreien Zeit kamen die Erwachsenen und die Kinder zu der Erkenntnis: Weniger ist mehr! Von Zeit zu Zeit überprüfen die Erzieherinnen das Spielzeugangebot und tauschen das Material aus, um damit eine Reizüberflutung auszuschließen.
Übrigens spielen die Kinder immer noch mit Margarinedosen und Waschmittelflaschen, weil die „Papas und Mamas“ die Sachen für das traditionelle Vater-Mutter-Kind-Spiel brauchen.

Verfasst von Ingrid Bayer

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